Mögt Ihr mich? Folgt Ihr mir? - WELT (2024)

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Eines Tages war Ema Louise da, der YouTube-Algorithmus hatte sie vorgeschlagen. Was soll‘s, dachte ich und klickte, mal sehen. Schon gab auf meinem Laptopbildschirm eine junge Frau Auskunft über ihre Woche: Was sie getan, was sie gegessen, was sie eingekauft, was sie gekocht, was sie gefühlt hatte. Das also war Ema Louise. 21, wie sie sagte, freundliches Gesicht, sparsam geschminkt, man konnte sich vorstellen, dass sie auf Familienfotos oder bei Abendveranstaltungen hübsch rüberkam, aber man würde keine Dummheiten wegen ihres Aussehens begehen.

Dennoch hatte sie etwas leicht Verrücktes, jedenfalls für mich, kann gut sein, dass anderen ihr Verhalten völlig normal vorkommt. Sie redete nämlich wie aufgedreht auf ihre Kamera ein, hörte nicht mehr auf durchzugeben, was bei ihr los gewesen war. Sie erzählte zum Beispiel, wie sie sich ein Curry gemacht hatte, aus Currypulver, zwei Süßkartoffeln, Kokosmilch, Koriander, ich liebe Koriander. Oder dass sie sich einen Wischer gekauft hatte und nun regelrecht versessen darauf war, ihre Böden zu wischen. Oder dass sie sich Blumen hatte kaufen wollen, aber keinen Parkplatz bekommen hatte, weswegen sie nach Hause fuhr, um das Blumenkaufen später mit dem Rad zu erledigen. Was sie vortrug, lief auf nichts hinaus, hatte keinen Sinn und keine Pointe, gab einem nichts zu denken auf, war wirklich nichts anderes als die Schilderung eines völlig unspektakulären Alltags, einkaufen, kochen, essen, sich schminken, Videos drehen, Videos schneiden, keinen Parkplatz finden. So ging es dahin, und je länger es ging, desto verwirrender war es. Warum machte sich jemand die Mühe, so etwas im Internet mitzuteilen? Warum guckten sich Menschen das an, nicht nur ich, sondern manchmal 100.000 andere, wie ich den Zählern unter ihren Videos entnahm? Was hatte das zu bedeuten?

Die von der Gegenwart dafür angebotene Antwort lautet, dass Ema Louise YouTuberin und Influencerin ist. Eine, die kraft ihrer Authentizität und Persönlichkeit, die sie in YouTube-Videos (und in ihrem Fall auch auf Instagram-Fotos) zu erkennen gibt, andere Menschen dazu bringt, sie zu „mögen“ und ihr deswegen zu „folgen“, so sehr, dass sie die Produkte, die Ema Louise trägt, isst oder auf ihre Haut cremt, möglicherweise auch kaufen. So jedenfalls wird einem das immer mal wieder erklärt. Man nimmt es zur Kenntnis, wundert sich vielleicht ein wenig darüber, was es alles so gibt, denkt aber nicht weiter darüber nach und beschließt, YouTuber und Influencer so entschieden nicht zur Kenntnis zu nehmen wie andere Marotten der Gegenwart, selbst wenn man möglicherweise den neuesten heißen Scheiß verpasst.

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Sobald man sich aber tatsächlich in so einer YouTuberinnen-Existenz umzusehen beginnt, tun sich Abgründe auf. Ema Luise zum Beispiel lädt seit acht Jahren auf YouTube hoch. In den frühesten Videos, die man von ihr findet, ist sie 13, trägt Zahnspange und erzählt, was in ihrer Schultasche ist oder wie es bei ihr zu Hause aussieht. Alles total nett und unschuldig, man kann verstehen, wie viel Spaß es macht herauszufinden, was geschieht, wenn man sich der Öffentlichkeit zeigt, ob man gemocht wird, wie andere darauf reagieren. Aber acht Jahre lang?

Acht Jahre lang Videos von sich machen, in denen man über sein Leben plappert, und zwar nur über die Dinge, die nicht wirklich entscheidend sind (was „zu persönlich“ ist, familiäre Aufregungen, Depressionen, Beziehungskummer, hält sie geheim, sagt sie hin und wieder)? Hunderte von Videos, in denen man sagt, was man isst, welche Tops man trägt, welche Morgenroutine man im Bad hat? Einen Beruf daraus machen? Es mit Leuten zu tun bekommen, die Influencer-Marketing für eine Waffe im Kampf um Kunden halten? Jeden verdammten Tag darüber nachdenken, was man seinen Followern zu bieten hat – und dabei wissen, dass es doch immer nur das banale eigene Selbst ist? Immer die Hemmung überwinden müssen, nicht über sein Backrohr, seine Broccolicremesuppe, seine Vorliebe für BHs mit Spitzenträgern zu erzählen? Gibt es tatsächlich Unternehmen, die sich davon Absatzsteigerungen versprechen? Man kann sich das so schlecht vorstellen, dass man irgendwann hofft, das alles sei eine grandiose Kunst-Langzeitperformance, etwas Ähnliches wie Marina Abramovic, nur viel radikaler. Man sieht normalen Menschen beim Normalsein zu, hört sich an, was sie wieder nicht erlebt haben, und macht irgendwann, wenn man es lange genug ansieht, Erfahrungen, die auf anderem Weg nicht zu haben sind.

Eine halbe Million bzw. 200.000 Menschen haben Ema Louises zwei YouTube-Kanäle abonniert, ein größeres Publikum als Zeitschriften, deutsche Kinofilme, Musiker haben – obwohl in ihren Videos nichts passiert, nichts Spektakuläres gesagt wird, man aus ihnen nichts mitnehmen kann (außer vielleicht Wissen von der Art, welche Hafermilch besser aufschäumt). Doch vielleicht ist genau das das Geniale an den YouTubern. Sie geben einem die Illusion, man würde mit jemandem zusammenwohnen – ohne es tatsächlich tun zu müssen. So wie es früher CDs für Singles gab, auf denen die Geräusche eines anderen zu hören waren, die Klospülung, der Wasserhahn, Schritte auf Parkettboden und so weiter, und sobald man diese CDs auflegte, war es, als wäre man nicht völlig allein in seiner eigenen Wohnung. Kann es sein, dass YouTuber Kämpfer gegen die Einsamkeit sind – sowohl gegen ihre eigene als auch gegen die ihre Zuseher?

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Andererseits ist alles andere, was man als junger Mensch in unserer gloriosen Gegenwart tun kann, auch nicht viel besser. In Hörsälen oder Praktika versauert man ohne die Aussicht, irgendwann belohnt zu werden und ohne von jemandem dafür ein Like zu bekommen. Und einer wie Bekir, jener seltsame Typ, dem es zu seiner eigenen Verwunderung gelang, eine Schlägerei auf dem Alexanderplatz zu provozieren, bei der 400 Fans zweier YouTuber aufeinander losgingen, hätte es auf keine andere Weise zu seinen zehn Sekunden Ruhm geschafft. Das geht für die meisten offensichtlich nur noch mit einem Kanal, in dem man seinen Abonnenten vorführt, wie man sich seinen Bart färbt, welche Turnschuhe man hat oder wie man es schafft, sich 100 Streifen Kaugummi in den Mund zu stecken.

Ohne dass wir es mitbekommen hätten, sind wir in einer Welt gelandet, in der jungen, ehrgeizigen Menschen keine glamourösen Wege zum Ruhm mehr offenstehen. Sie können Reden gegen die Klimaerwärmung schwingen, die sich anhören, als hätten sie sich ein paar Laufmeter wissenschaftlicher Studien reingezogen; sie können sich von Castingshow-Juroren oder von Heidi Klum auf ihre Tauglichkeit mustern lassen; oder sie können auf YouTube anderen erzählen, was sie gemacht, gedacht und gekauft haben und wie man sich die Haare schön machen kann, wenn man sich anstrengt, kriegt man sogar ein wenig Geld dafür.

Wahrscheinlich kommt einem das nur deswegen nicht so schlimm vor, weil man sich ohne Weiteres Dinge ausmalen kann, die noch viel schlimmer sind. Die Künstliche Intelligenz jedenfalls, die eines Tages die Weltherrschaft übernehmen wird, wird viel damit zu tun haben, die Traurigkeit der menschlichen Intelligenz zu enträtseln. Falls sie darauf Lust hat.

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Author: Ouida Strosin DO

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