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Nick Payne stellt in seinen Stücken die ewig existenziellen Fragen. In "Constellations" wird eine Art quantenphysikalisches Beziehungsdrama daraus. Regisseur Hüsein Michael Cirpici hat am Deutschen Theater daraus nun ein pures und hitziges Kammerspiel destilliert.
Von Michael Laages |
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Ein bisschen erstaunlich ist das schon – dass ein Stück wie dieses, derart eng und streng gestrickt, dass es wie imprägniert wirkt gegen offensivere Inszenierungsmethoden, im zweiten Anlauf nun tatsächlich doch ganz anders aussieht als beim ersten. „Well made" ist Nick Paynes Text im allerbesten Sinn. Aber was da so sicher und unausweichlich vom Autor gefügt ist, bleibt (weil es die gängigen Regeln des Theaters konsequent ignoriert) in jedem Augenblick Abenteuer pur. Warum das so ist, zeigt die Berliner Inszenierung von Hüseyin Michael Cirpici gleich zu Beginn mit drei Ausrufezeichen: In 30 Sekunden nimmt das Stück dreimal Anlauf, mit Small-Talk auf der Barbecue-Party. Aber jeder Anlauf führt mit mindestens einem winzigen Detail in eine andere Richtung. So geht's los:
"Wissen Sie, warum man sich nicht an der Ellenbogenspitze lecken kann? Weil das der Sitz der Unsterblichkeit ist. Könnten wir uns an der Ellenbogenspitze lecken, würden wir alle unsterblich sein. Aber wenn wir uns alle an der Ellenbogenspitze lecken könnten, bräche das Chaos - denn wer will schon wirklich ewig leben ..." - "Äh, ja, ich leben in einer Beziehung." - "Wissen Sie, warum man sich nicht an der Ellenbogenspitze lecken kann?"
Und so weiter; nur diesmal mit diesem Ende:
"Wer will schon ewig leben ..." - "Äh, ich habe mich gerade getrennt – es war was Ernstes ..." - "Oh, tut mir leid, ich habe einfach so rum geplappert, weil ich mit Ihnen ins Gespräch kommen wollte" – "Jaja, aber trotzdem ..." - "Wissen Sie, warum man sich nicht an der Ellenbogenspitze lecken kann?"
Noch mal das gleiche, aber nun lernen die beiden sich kennen. So wird es dem Publikum von nun an öfter ergehen. Immer mal wieder fährt Payne die Story an irgendeinem neuen Augenblick wieder zurück auf Null und lässt sie in unterschiedliche Richtungen driften. Ob Marianne, die Quantenphysikerin, und Roland, der Imker, schon gleich nach dem ersten Kennenlernen miteinander ins Bett gehen? Alles ist möglich, auch und gerade das Gegenteil. Wer wen nach einer Weile betrügt, er sie oder sie ihn? Alle Spielarten der Trennung werden durchprobiert. Wie die beiden einander nach einiger Zeit in einem Tanzkurs zufällig wieder treffen? Und ob beziehungsweise wie schnell sie einander wieder verfallen? Auch dafür gibt's fast ein halbes Dutzend Spiel-Ansätze.
Die Physikerin hat das Prinzip kurz nach Beginn erklärt: "Im Quanten-Multiversum gibt es für alle Entscheidungen, die Du getroffen oder nicht getroffen, eine unübersehbare Menge von Möglichkeiten ..." – "Alles?" – "Alles!"
Unübersehbare Mengen von Möglich- und Unmöglichkeiten
Leben im "Multiversum" also, unübersehbare Mengen von Möglich- und Unmöglichkeiten lauern am Wege. Und das Stück bietet auf beinahe boulevardesken Weise allerlei hochphilosophische Denksport-Aufgaben. Und als sei das nicht schon anstrengend genug, berührt der zweite Teil (nachdem die so ungleichen Partner wieder beieinander sind) ein wirklich letztes Thema – denn sie wird krank, war es schon zu Beginn; ein Tumor im Kopf frisst ihr die Worte aus dem Hirn. Eine Szene wird in Zeichensprache gespielt ... Hat sie noch höchstens ein Jahr? Sucht sie Kontakt zu einem Sterbehilfeverein? Wird sie die Entscheidung dafür oder dagegen treffen? Und wird er sie begleiten?
Noch einmal beginnt in der letzten Szene die schicksalhafte Tanzstunde. Und alles könnte auch ganz anders laufen als gerade gesehen ...
Wilfried Minks hatte in Hamburg den Charakter einer Versuchsanordnung betont – mit ihm und ihr auf dem immer gleichen Sofa in immer neuen Konstellationen. Dahinter rollte ein bühnenhohes Rad wie aus dem Bauhaus unmerklich langsam von rechts nach links; den Zeitsprüngen des Stücks stellte Minks eine reale Zeit-Behauptung gegenüber, eben die des rollenden Rades. Regisseur Cirpici verzichtet in Berlin auf jede szenische Behauptung; nur zu Beginn, noch in dunklem Nebel und wenn das Publikum die kleine Box im Deutschen Theater betritt, daddeln Natali Seelig und Matthias Neukirch mit einem flirrenden Computerspiel. Hinter ihnen spielt dann für den Rest des Abends der Multi-Instrumentalist Tobias Vethake – das gibt Struktur. Aber das Ereignis ist das Paar selbst – wie es aus dem überaus theoretischen Spiel-Ansatz das pure, hitzige Kammerspiel destilliert.
Auch das ist also möglich neben ganz viel Theorie über Zufall und freien Willen. Erst jetzt, nach diesem zweiten Versuch, steht das kleine Stück bereit für die Karriere auf ganz vielen Bühnen: und als Kandidat für das beste ausländische Stück der Saison.